Von Dr. Matthias Wolter (16.11.2023)
Der Wunsch, sich in Bedrohungs- und Gefahrenlagen angemessen körperlich verteidigen zu können, ist nachvollziehbar. Immer wieder liest man von Übergriffen auf Unschuldige: Personen werden auf offener Straße angegriffen, Frauen sexuell belästigt, Menschen nachts überfallen, Mitarbeiter*innen werden bedroht, angegriffen und zum Teil schwer verletzt. Leider sind auch immer häufiger Waffen im Spiel, wie bei Messerangriffen in Zügen oder im Einzelhandel. Aus diesem Grund gibt es aus unserer Wahrnehmung nach einem steigenden Wunsch, Selbstverteidigung zu erlernen – für Berufsgruppen wie Service-Mitarbeiter, Angestellten im öffentlichen Dienst oder in sozialen Berufen, im Umgang mit schwierigen Kunden oder gewaltbereiten Klienten. Am besten in einem Kurs oder Firmenseminar zum Mitarbeiterschutz, Selbstverteidigung und Gewaltprävention.
SELBSTVERTEIDIGUNG, IMMER EINE GUTE IDEE?
Die Fähigkeit zur Selbstverteidigung ist eine Kompetenz, über die sicher viele verfügen wollen – vor allem, wenn Sie in Ihrem Beruf schon einmal in einer brenzligen Situation waren, in der Sie körperlich angegriffen wurden. Nicht nur, um sich selbst im Umgang mit gewaltbereiten Menschen zu schützen, sondern auch um anderen zu helfen, die sich in einer bedrohlichen Situation befinden, sind Techniken der Selbstverteidigung sinnvoll. Es ist eine Fähigkeit, die nicht nur das körperliche, sondern auch das emotionale Wohlbefinden verbessern kann. Es ist also immer eine gute Idee, eine Grundlage in Selbstverteidigung zu schaffen.
In wenigen Stunden zum Selbstschutz? Vorsicht vor falschen Versprechungen
Jedoch sind Kurse und Seminare, die in kürzester Zeit die Fähigkeit zur Selbstverteidigung versprechen, aus unserer Sicht sehr kritisch zu betrachten. Aus welchem Grund? Der Autor (Dr. Matthias Wolter) hat selbst 25 Jahre intensiv Kampfsport betrieben, 5-7 Tage die Woche hart und oft sehr realistisch trainiert, im Vollkontakt gekämpft und kann vier schwarze Gürtel sein Eigen nennen. Zudem galt er als Experte für realistische Selbstverteidigung und Straßenkampf. Gerade mit diesem Erfahrungshintergrund haben wir uns die Frage gestellt, warum es 25 Jahre hartes Training brauchte, wenn doch angeblich ähnliche Fähigkeiten auch in einem Kurs erlangt werden können.
Ausgangslage eines potenziellen Gewalttäters
Schauen wir uns einmal einen potenziellen Gewalttäter und mögliche Gefahrensituationen an: Ein Täter möchte körperliche Gewalt, mit welchem Ziel auch immer, anwenden. Somit hat er gegenüber dem möglichen Opfer zunächst den Vorteil, dass er sich vorweg überlegen kann, ob er dazu psychisch und physisch in der Lage ist. Wenn ja, kann er sich den Ort, die Zeit und das potenzielle Opfer aussuchen. Das ist ein nicht unerheblicher Vorteil gegenüber dem Opfer, welches die Situation so nehmen muss, wie sie kommt.
Des Weiteren ist ein Täter voll mit Adrenalin – das lässt sich angesichts seines Vorhabens gar nicht vermeiden. Adrenalin hat unter anderem die Funktion, das Schmerzempfinden zu reduzieren, d. h. man muss schon ordentlich „zulangen“, damit der Angreifer überhaupt etwas merkt. Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Täter geht möglicherweise vorbereitet, mit einem Höchstmaß an Energie, Schmerzunempfindlichkeit und Angriffslust in eine Übergriffs-Situation. Das trifft in großen Teilen auch auf die Personen zu, die ad hoc aggressiv und gewaltbereit sind.
Ausgangslage eines potenziellen Opfers
Eine Person, die angegriffen wird, hat diese Vorbereitung nicht. Wann, wie und wo man angegriffen wird, ist im Vorweg nicht bekannt. Zudem kann man sich seinen Angreifer nicht aussuchen, insbesondere nicht jemanden, der schwächer ist. Und normalerweise verfügt man nicht über trainierte Angriffs- und Verteidigungstechniken. Zusammengefasst: Es ist eine sehr schwierige Ausgangslage, sich erfolgreich zur Wehr zu setzen. Noch mehr, wenn man nicht über grundlegende und effektive Techniken zur Selbstverteidigung und Selbstbehauptung verfügt.
KEINE EINFACHEN ANTWORTEN AUF EIN WORST CASE!
In Bezug auf die Selbstverteidigung in brenzligen Situationen und den Schutz ihrer Mitarbeiter*innen möchten viele Arbeitgeber gern hören: “Diese Technik ist in jeder Situation effektiv, um sich selbst und andere zu schützen. Simpel, schnell ausgeführt und selbst bei Gegnern, die größer und schwerer sind, immer die Nummer 1.” So einfach ist es in der Realität leider ganz und gar nicht. Ganz im Gegenteil, wir sprechen von einer maximalen Anforderung an psychischer Stabilität, extremer Selbstkontrolle und einem schnellen, konsequenten Einsatz körperlicher Gegenwehr!
Wie geht denn jetzt “Selbstverteidigung für Mitarbeiter”?
Diese Frage ist nur schwer pauschal zu beantworten. Es fließen bei der Betrachtung wieder die Fragen WANN, WER, WO und WARUM mit ein. Geht es um häusliche Gewalt? Um einen Übergriff in der Öffentlichkeit oder in einer einsamen Gegend? Handelt der Täter aus dem Affekt oder hat er einen Plan? Geht es bei der Tat um Raub oder um eine gezielte Verletzung des Opfers? Rastet jemand gerade aus und verliert die Selbstkontrolle? Mit oder ohne Einwirkung von Alkohol, Drogen oder einer psychischen Erkrankung? Man kann in Betracht ziehen, ob es sogar einen, zumindest ein Stück weit, nachvollziehbaren Grund für die Aggression gibt? Die Beantwortung dieser Fragen kann zu einem höchst unterschiedlichen Einsatz von Selbstverteidigungstechniken- und Strategien führen.
Gegenseitiges Hochschaukeln im Umgang mit schwierigen Kund*innen und Kolleg*innen
Viele körperlichen Aggressionen schaukeln sich hoch, die Emotionen steigen. Das gilt insbesondere für persönliche und gruppendynamischen Konflikte. Liegt das subjektive Erleben einer Ungerechtigkeit vor, gegen die man ankämpfen muss oder geht es um die Verteidigung der Ehre? Es gibt eine Vielzahl von möglichen Motiven, die eine Gegenreaktion beeinflussen.
Selbstverteidigung für Nichtkampfsportler*innen
Bei den Vorüberlegungen für eine effektive Selbstverteidigung, darf nicht übersehen werden, dass es sich bei den potentiellen Opfern in der Regel um Nichtkampfsportler handelt. Also Menschen, die nicht monate- oder jahrelang Hebel- oder Wurftechniken trainieren konnten oder wollten. Zudem vielleicht aufgrund des Alters, Größe, körperlichen Zustand oder psychischen Disposition nicht die optimalen Voraussetzungen für eine körperlichen Gegenwehr mitbringen.
SIEBEN HANDLUNGSEBENEN (K7)
Aus meiner Sicht gibt es mindestens SIEBEN Phasen einer Gefahrensituation, man könnte dies weit gefasst auch als „Gefahrenradar“ bezeichnen:
K 1. Präventives Handeln
Das Unternehmen und seine Mitarbeiter*innen überlegen sich im Vorfeld, ob Gefahrensituationen bereits im Vorhinein verhindert oder abgeschwächt werden können. Das ist natürlich nicht in jedem Fall möglich, aber es sollte jede Möglichkeit der Gewaltprävention genutzt werden. Wir als Team von Kompetenz Sieben haben dazu ein Konzept im Rahmen der Mitarbeitersicherheit entwickelt.
K 2. Die Flucht
So simpel es klingt, so effektiv ist es doch, sich möglichst schnell aus der Gefahrensituation zu bringen. Leider ist dies, insbesondere am Arbeitsplatz, nicht immer möglich.
K 3. Effektive Deeskalation
Für mich liegt der Schwerpunkt in der Ausbildung der Mitarbeiter*innen. Kommunikative Lösungsstrategien und deeskalierende Techniken sind nachhaltiger zu erlernen und anzuwenden als Kampftechniken mit ungewissem Ausgang.
K 4. Technische Vorkehrungen nutzen
Wenn möglich, sollten technische Möglichkeiten genutzt oder auf sie verwiesen werden. Dazu gehören zum Beispiel Notfallknöpfe, Kameras etc.
K 5. Aufmerksamkeit herstellen
Gerade wenn es darum geht, einen Menschen nicht in der Öffentlichkeit anzugreifen, ist es einer der Hauptmotive des Täters, nicht erkannt zu werden. Daher sind die lautstarke Herstellung von Öffentlichkeit oder die gezielte Ansprache von Passanten u. a. eine Möglichkeit, das Motiv des Täters für sich zu nutzen. Einer der ersten Punkte eines guten Selbstverteidigungskurses ist daher immer: Machen Sie laut und deutlich klar, dass Sie Hilfe benötigen und sich in der Situation unwohl fühlen, um andere Menschen auf die Situation aufmerksam zu machen.
K 6. Körperlicher Selbstschutz
Die eingesetzten Techniken müssen effektiv, einfach und umsetzbar sein. Es sollten nicht mehr als 3-5 Techniken regelmäßig trainiert werden, um die Teilnehmer nicht zu überfordern und die jeweiligen Strategien zu beherrschen.
K 7. Nachbetreuung für Mitarbeiter
Auch nach einem Übergriff oder dem Erleben einer kritischen Situation sollte der Blick auf den Menschen nicht abgewendet werden. Im Nachhinein kann der Mitarbeiter – entweder durch den Arbeitgeber oder durch psychologische Betreuung – Unterstützung benötigen, den Vorfall angemessen zu bearbeiten. Wir sollten das Opfer auch nach der Tat nicht alleine lassen!
KERN DER KÖRPERLICHEN SELBSTVERTEIDIGUNG
In der Vermittlung von Selbstverteidigungstechniken stehen für mich zwei Paradigmen an erster Stelle:
- Die Selbstverteidigungstechniken müssen einfach sein!
- Es sollten maximal fünf Techniken vermittelt werden!
Die Gründe hierfür sind einfach: Es ist sehr schwierig, unter Stress das „Richtige“ zu tun und sich in stressigen Situationen zu behaupten. Vielleicht kennen Sie das auch, dass Sie unter Wut Aussagen von sich geben, die Sie im ruhigen Zustand nicht gesagt hätten.
Stress erschwert eine effektive Selbstverteidigung!
So kann es sich auch bei der Selbstverteidigung verhalten; man setzt nicht die bestenfalls gerade erst gelernten Selbstverteidigungstechniken ein, sondern wir greifen in die Schublade unserer Ur-Muster und Gewohnheiten. Das heißt, das was wir tun oder unterlassen, kommt eher aus dem tief im Gehirn angelegten Kampf- oder Fluchtmuster des jeweiligen Menschen und basiert selten auf einer cleveren Selbstschutzstrategie. Da kann es auch erfahrenen Kampfsportler*innen passieren, dass sie trotz jahrzehntelangen Trainings auf einmal unbedacht und unspezifisch handeln.
Einfach, wenig, aber effektiv
Daher ist es aus unserer Meinung unabdingbar, auf komplexe Techniken zu verzichten, da der korrekte und sichere Ablauf unter hohem Stress für einen Nichtkampfsportler nicht oder kaum abrufbar sein wird. Die Techniken müssen so einfach, aber auch so effektiv wie möglich für den jeweiligen Einsatzzweck sein.
Aus meiner Sicht kann ein Mensch, ob Anfänger oder Profi, unter massivem Stress maximal 3-5 Techniken gezielt abrufen und einsetzen. Daher sollten wenige Techniken möglichst lange und intensiv trainiert werden. Sie werden kaum einen geübten Schläger finden, der im Kampf 10-15 Techniken einsetzt.
Stressbesetztes Üben
Ein Selbstverteidigungstraining für Mitarbeiter sollte aus meiner Sicht zwingend Trainingsanteile unter Stress beinhalten, um die Teilnehmer*innen auf Angst- und Stresssituationen vorbereiten zu können – und die Abrufbarkeit der 3-5 Techniken in Gefahrensituationen deutlich zu verbessern.
Aus diesem Grund haben wir ein Impuls- und Selbstkontrolltraining entwickelt, das die oben genannten Kompetenzen gezielt trainiert.
Selbstverteidigung für Mitarbeiter und Arbeitsschutz: Was bietet Kompetenz 7 an?
In diesem Blog können wir nicht alle unsere Techniken, Tipps und Strategien zur Selbstverteidigung darstellen. Wenn Sie sich noch weiter zu diesem Thema informieren möchten oder an einem Kurs zur Selbstverteidigung für Mitarbeiter interessiert sind, kontaktieren Sie mich oder das Team von K7 gern direkt. In unserem Training „Selbstverteidigung für Mitarbeiter“ und dem Konzept zur „Mitarbeitersicherheit“ können wir mit Ihnen gemeinsam daran arbeiten, sich auch in schwierigen Situationen effektiv und sicher zu schützen und die Sicherheit Ihrer Angestellten zu erhöhen.
IHR FEEDBACK FREUT UNS!
Wenn Ihnen dieser (wie immer viel zu kurze oder zu oberflächliche) Meinungsblog gefallen oder auch nicht gefallen hat, schreiben Sie mir gerne ein Feedback. Auch wenn Sie Anregungen für einen neuen Blog haben, freue ich mich über Ihre Zuschriften.
Ihr Matthias Wolter